Tarot de Marseille
Die Mutter aller modernen Tarots
Das System
Das Tarot de Marseille ist der Urahn des modernen Tarots. Entstanden im 15.-17. Jahrhundert in Frankreich und Italien, definierte es den Standard, an dem sich alle späteren Decks orientierten.
Die charakteristischen Merkmale: Kräftige Farben (Rot, Blau, Gelb, Grün), klare Holzschnitt-Ästhetik und eine Bildsprache, die tief in der mittelalterlichen Symbolik verwurzelt ist. Die Kleinen Arkana zeigen keine szenischen Darstellungen, sondern geometrische Anordnungen der Elemente (Stäbe, Kelche, Schwerter, Münzen).
Im Marseille-System hat Gerechtigkeit die Nummer VIII und Stärke die Nummer XI - das Gegenteil der späteren Rider-Waite-Tradition. Diese "französische Ordnung" folgt einer älteren Überlieferung.
Viele esoterische Schulen betrachten das Marseille-Tarot als das "reinste" Tarot, unverfälscht von späteren okkulten Interpretationen.
Die Geschichte
Der Name "Marseille" ist etwas irreführend - die Karten wurden in ganz Frankreich und Norditalien hergestellt. Marseille war jedoch ein wichtiges Zentrum der Kartenproduktion und des Exports.
Die frühesten erhaltenen Beispiele stammen aus dem späten 15. Jahrhundert. Bekannte historische Decks sind:
- Jean Noblet Tarot (ca. 1650) - eines der ältesten erhaltenen Marseille-Decks
- Jean Dodal Tarot (ca. 1701-1715) - aus Lyon
- Nicolas Conver Tarot (1760) - wurde zum "Goldstandard"
- Grimaud Tarot (1930) - die moderne Referenz
Im 18. Jahrhundert wurde das Tarot de Marseille von Okkultisten wie Court de Gébelin und Etteilla "entdeckt", die es mit ägyptischer Mystik und Kabbala verbanden - obwohl diese Verbindungen historisch nicht belegt sind.
Die Kartenmacher
Anders als moderne Tarots wurden die Marseille-Karten nicht von einzelnen "Schöpfern" entworfen, sondern entstanden durch Generationen von Handwerkern, die ein traditionelles Design weitergaben und verfeinerten.
Die Kartenmacher (maîtres cartiers) waren zunftmäßig organisiert. Jeder druckte seine eigene Version, doch die Grundmuster blieben über Jahrhunderte erstaunlich konstant. Das Marseille-Tarot ist daher eher ein "Volkstarot" - ein kollektives Werk der europäischen Kultur.
Die französische Tradition
In Frankreich entwickelte sich um das Marseille-Tarot eine eigene Legetradition. Die Tarot de Marseille Schule betont:
- Numerologische Interpretation (die Zahlen der Karten sind zentral)
- Farbsymbolik (jede Farbe hat spezifische Bedeutungen)
- Blickrichtung der Figuren (wohin schauen sie? was bedeutet das?)
- Körperhaltung und Gesten als Deutungshinweise
Diese Methode, populär gemacht durch Alejandro Jodorowsky und Philippe Camoin, bietet einen anderen Zugang als die englisch-amerikanische Golden-Dawn-Tradition.